Bericht für die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs


Es geht um mich, Anika-Kerstin Biegner, geboren in eine schutzlose Familie mit 3 Geschwistern am 17.02.1976 in Berlin Kreuzberg. Ich habe mir diesen Satz sorgsam ausgewählt, denn das bin ich.

 

 

Das Thema Sexualität war eigentlich schon von Anfang an ein Thema, da meine Mutter sexsüchtig und eine Borderlinerin war. Sie war kalt lieblos und sehr selbstbezogen. Ich möchte darauf hinaus, was es bedeutet, wenn ein Kind wirklich überhaupt keinen Schutz erfährt und wie sich das während des sexuellen Missbrauchs auswirkt. Ich war schon immer das liebe süße Mädchen, das jeder knuddeln und lieb haben wollte. Was nicht immer angenehm war. Außerdem hat meine Mutter dafür gesorgt, dass ich mich benehme, indem sie mich unterdrückte oder mir drohte, sei es mit Schlägen oder einsperren. Die Trennung meiner Eltern erfolgte, als ich 3 Jahre alt war.

 

 

In meinem Fall, war der Täter mein Stiefvater und eventuell noch andere Personen, was mir lange Zeit nicht bewusst war. Meine Mutter heiratete ihn, als ich 6 war. Er war ein sehr gewalttätiger Mann. Also wieder kein Schutz. Vieles von dem, was ich dort erlebt habe, konnte ich lange Zeit gut in einer Kiste verstecken. Die prägendste Erinnerung war, als sich diese Menschen mal wieder schlugen und mein Stiefvater in mein Zimmer kam, um mich zu beruhigen. Was suchte dann seine Hand unter meinem Schlafanzug und warum saß er breitbeinig hinter mir. Meine Mutter kam rein, sah es und fing an sich weiter mit ihm zu streiten, anstatt auf diese Situation einzugehen. Es gab immer wieder Bruchstücke anderer Situationen aber bis heute will ich da einfach nicht hinschauen. Die Folgen davon sind, ich kann kein Sperma riechen, mein Brechreiz ist so ausgeprägt, das ich mit der Zahnbürste nicht hinten ran komme. Wenn jemand mir mit seinem Gesicht zu nahe kommt, verkrampfe ich mich so sehr, dass ich aufhöre zu atmen und mein Kopf anfängt zu wackeln. Sexualität ist für mich immer noch mit Scham behaftet. Ich hatte bis jetzt (ich bin 42) nur eine Beziehung in der etwas möglich war, mich auf etwas einzulassen. Alles andere war irgendwie Nötigung durch mich selbst und um das Gegenüber zufrieden zu stellen. Wenn meine Mutter mal wieder betrunken genug war, durfte ich auch öfters Mal beim Sex zugucken, was ja auch eine Form von sexuellem Missbrauch ist.

 

 

In der zweiten Klasse, konnte ich immer noch nicht meine Schuhe zubinden oder die Uhr lesen. Meine Kontakte in der Klasse waren 2 Mädchen, sonst isolierte ich mich die ganze Zeit. Ich habe viel Zeit alleine draußen verbracht, da meine Mutter mich oft aus der Wohnung aussperrte. Im Sport wollte ich mich nie ausziehen, das ging bis zu zehnten Klasse. Ich bin ständig hingeflogen und hatte kaputte Kniee. Keinem ist etwas aufgefallen oder man hat einfach weggesehen.

 

 

Mit 8 oder 9 hat mein Stiefvater dann versucht meine Mutter in der Badewanne zu ertränken. Sie konnte sich wehren und versuchte ihn mit einer Badezimmerwaage zu erschlagen. Sie hätte es fast geschafft aber hörte auf, weil ich dann in der Tür stand und geschrien habe. Das war das erste Mal, dass das Jugendamt dazu kam. Ich war dann 2 Tage im Kindernotdienst und als meine Mutter aus der U-Haft zurückkam, wurde ich wieder zu ihr geschickt. Mein Stiefvater lag zu dieser Zeit im Koma und ich ging einfach ins Krankenhaus um mich zu überzeugen, dass er mir nichts mehr tun kann. Man wollte mich erst nicht zu ihm lassen aber ich hab dann einfach den Oberarzt rufen lassen.

 

Meine Mutter hat den Missbrauch natürlich abgestritten, als ich Sie mit 19 damit konfrontierte und ich hätte mir das alles ausgedacht aber was anderes habe ich von ihr auch nicht erwartet.

 

 

Wir lebten dann eine Zeitlang im Frauenhaus und sie lernte einen neuen Mann kennen, der mich zwar nicht anfasste aber ebenfalls gewalttätig war. Er versuchte eigentlich immer nett zu mir zu sein aber leider bewegten wir uns im Kneipenmilieu. Das heißt mit 11 oder 12 Jahren verbrachte ich Teile meiner Zeit in einer Kneipe. Dort waren genug erwachsene Männer, die mich gerne mal anfassten oder sich auf mein „Aufblühen“ konzentrierten. Es war auch völlig normal, wenn eine 12 Jährige (meine Stiefschwester) mit einem 35 Jährigen zusammen war. Heute ist das für mich absolut unverständlich, vor allem dann, wenn es die Eltern einfach so hinnehmen.

 

 

Das Interessante an dem Ganzen ist heute für mich, das Pädophile anscheinend einen Riecher für Kinder haben, die in einem desolaten Zuhause leben und nicht geschützt werden. Einmal rannte mir einer bis zur Haustür hinterher und ich war Gott sei Dank so schnell und konnte die Eingangstür zuschlagen.

 

Mit Anfang 13 bin ich dann freiwillig ein Heim gegangen, da ich es einfach nicht mehr ausgehalten habe. Für mich fingen die Probleme dann an (auch wenn ich vorher ganz klar schon welche hatte).

 

 

Gerade im Jugendalter und als junge Erwachsene war ich sehr destruktiv und habe mich immer wieder versucht umzubringen, konnte keine normalen Beziehungen führen. Ich fing an zu trinken, Drogen zu nehmen, schwänzte die Schule und hatte mehrere Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen oder Krisendiensten. Da sich in der Zeit auch noch 2 meiner Brüder umbrachten, war es für mich eine Katastrophe.

 

Irgendwann stand ich wirklich auf Messers Schneide und ich musste mich fragen, ob ich wirklich sterben wollte. Nein, das wollte ich nicht. Ich versuchte mir dann Hilfe zu holen, sei es im Berliner Krisendienst, bei Neuhland oder in einer sozial therapeutischen Wohngemeinschaft.

 

 

Ich habe in den letzten 20 Jahren 5 ambulante Therapien gemacht, war 3 Mal in einer stationären Traumatherapie und ohne diese ganze Hilfe wäre ich sicherlich vor die Hunde gegangen. Ich konnte bis 2009 nicht arbeiten gehen, da ich erstmal den Weg der Aufarbeitung gehen musste. Es ist sehr anstrengend und nimmt mir viel meiner Energie. Es ist unglaublich anstrengend für mich, einen Freundeskreis aufrecht zu erhalten, auch wenn es nicht sehr viele sind. Menschen lösen immer noch sehr viele Ängste in mir aus, so da ich mich oft zusammenreißen muss. Wenn man in jedem Menschen einen potentiellen Täter sieht, egal ob Mann oder Frau, ist das sehr anstrengend, da der Kampf oder Fluchtmodus ständig aktiviert ist. Nachts komme ich kaum in den Tiefschlaf, ich rede, manchmal schreie ich oder schlage mich selbst. Natürlich ist es kein Vergleich mehr zu früher, wo ich eigentlich nur sterben wollte aber jetzt lebe ich auch nicht richtig, sondern überlebe. Alles muss geplant sein und nichts dem Zufall überlassen. Wenn ich reisen will, ist alles hundertprozentig durchgeplant, damit auch nichts dazwischen kommt.

 

 

Ich habe fast alles aufgearbeitet, bis auf eines und das ist der Missbrauch. Ich habe es einmal versucht und zu diesem Zeitpunkt kamen wieder die Selbstmordgedanken. In der Therapie entschieden wird dann, das Thema sein zulassen, da ich einfach noch nicht soweit bin. Ich glaube auch nicht, dass ich das machen muss. Ich möchte nicht zerbrechen und noch einen Teil meines Lebens genießen, auch wenn es mit Abstrichen ist. Meine Mutter starb vor 2 Jahren und damit kam auch wieder einiges ins Rollen aber irgendwie auch im guten Sinne.

 

 

Ich ging zum Weißen Ring und ließ mich beraten, wegen einer Opferentschädigung, gleichzeitig stellte ich einen Antrag beim Fond für sexuellen Missbrauch, was auch irgendwie eine Erleichterung für mich war, da man mir glaubte und er bewilligt wurde. Der OEG-Antrag ist noch im Verfahren und ich hoffe, dass er durchkommt, da ich wirklich sehr viele Mühen auf mich genommen habe, um zu beweisen, was mir widerfahren ist.

 

 

ich weiß nicht, ob der Bericht etwas bringt, da mir ja nicht nur der sexuelle Missbrauch passiert ist. Ich hatte nicht einen einzigen Menschen, der mir in dieser Zeit geholfen hat, auch nicht die Jugendämter, denn es waren mehrere, die die Alarmzeichen hätten sehen müssen und ich glaube darauf kommt es heute, wie damals an. Lehrer und Ämter müssen besser geschult werden. Warum gibt es eigentlich kein Projekt in dem therapierte Betroffene in die Schulen gehen, von sich erzählen, was sie sich gewünscht hätten und was die Alarmzeichen sind. Warum geht man nicht in die Klassen und vermittelt den Kindern, wie sich mitteilen können?

 

 

Das ist mein Bericht und ich hätte nicht gedacht, dass ich in der Lage bin, ihn so schonungslos zu schreiben.